Jedes Jahr erleiden in Deutschland fast 270 000 Menschen einen Schlaganfall, fast 70.000 von ihnen sind von einem Rezidiv, einem wiederholten Schlaganfall betroffen. Aus Ihrer medizinischen Expertise heraus: Warum sind diese Zahlen so hoch?
Dr. Stephan Kranz:Das hat mehrere Gründe: So leben in Deutschland leider immer noch sehr viele Menschen mit beinflussbaren Risikofaktoren wie Übergewicht, Rauchen, in der Folge Bluthochdruck oder Diabetes. Diese sind oft ursächlich für Ablagerungen in den Gefäßen. Wenn dadurch eine Engstelle in einem Hirngefäß entsteht und die Durchblutung unterbrochen wird, kommt es zum Schlaganfall. Ein anderer Risikofaktor ist das Alter selbst. Zum Glück werden wir immer älter, aber damit steigt das Risiko, einen Schlaganfall zu erleiden. So beobachten wir mit zunehmendem Alter die Anzahl von Patienten mit Herzrhythmusstörungen wie Vorhofflimmern. Diese Herzrhythmusstörung ist aber ein wichtiger Risikofaktor für Schlaganfälle. Und leider gehört auch dies zur Wahrheit: Zu einem nicht geringen Anteil finden wir als Mediziner keine Ursache für einen Schlaganfall.
Wieso ist das öffentliche Interesse bei diesen doch so hohen Fallzahl verhältnismäßig gering?
Dr. Stephan Kranz: Eine gute Frage. Einerseits wurde in Deutschland ein gut funktionierendes Netz an spezialisierten Abteilungen zur Behandlung von akuten Schlaganfällen, so genannten Stroke-Units, kontinuierlich aufgebaut. Andererseits ist die Prävention von Schlaganfällen, zumindest im öffentlichen Fokus, eher zurückgegangen. Dabei war Vorhofflimmern als wichtiger Risikofaktor für Schlaganfälle bis zum Ausbruch der Corona Pandemie durchaus im Fokus. So gab es Diskussionen, dass ein Screening auf diese Herzrhythmusstörung sehr sinnvoll wäre. Das hat dann auch Niederschlag in den Leitlinien gefunden. Dann kam Corona und hat die medizinischen Fachgesellschaften beschäftigt. Aktuell ist die Wichtigkeit der Herzvorsorge wieder in den Mittelpunkt gerückt und findet Ausdruck durch Initiativen wie der Nationalen Herz-Allianz.
Herzkrankheiten betreffen häufig Männer; gleichzeitig ist die Sterberate bei Frauen deutlich höher. Woran liegt das?
Dr. Stephan Kranz: Dass sich Krankheiten bei Frauen mitunter anders äußern, ist schon lange bekannt, rückt aber erst in den letzten Jahren in den Fokus. So werden geschlechtsspezifische Symptome zunehmend im Medizinstudium vermittelt. Andererseits zeigen Studien, dass insbesondere ältere Frauen länger warten, bis sie sich Hilfe suchen. Hier ist mehr Aufklärung gefordert, wie sie z. B. die Deutsche Herzstiftung unter dem Motto „Frauenherzen schlagen anders“ betreibt.
Sie sprechen bei myritmo von innovativer Herzvorsorge. Wie funktioniert das Mini-EKG genau?
Dr. Stephan Kranz: Wir haben Innovationen in verschiedenen Bereichen stark vorangetrieben. Das ist einmal das Aufzeichnungsgerät, das Mini-EKG selbst. Es ist klein, etwa so groß wie eine Streichholzschachtel, und benötigt keine Kabel. Es kann auch durch medizinische Laien, also jeden Kunden selbst, sehr einfach auf die Brust geklebt werden. Nach der Untersuchungszeit kann es auch selbst wieder abgenommen werden und je nach Anwendungsfall an dpv-analytics zurückgesandt werden oder in der Arztpraxis abgegeben werden. Überhaupt sparen die Arztpraxen viel Zeit: Die Daten werden einfach über ein Portal an unser Auswertezentrum übermittelt. Dort kommt der zweite Innovationsstrang zum Tragen. Eine hochmoderne Analysesoftware mit KI-Algorithmen wertet die Daten sehr schnell und präzise aus und unterstützt unser ärztliches Personal bei der Validierung der Ergebnisse. Wir vertrauen also nicht der KI allein: Jedes EKG wird ärztlich freigegeben.
Wie ist die Idee zu diesem innovativen Produkt entstanden?
Dr. Stephan Kranz: Als Gesellschafter einer großen kardiologisch-angiologischen Praxis waren wir selbst auf der Suche nach einem modernen Langzeit-EKG System, das nicht mehr mit Kabeln arbeitet und zudem die Bindungszeit durch ärztliches Personal aber auch Praxispersonal reduziert. Da wir kein entsprechendes Angebot gefunden haben, haben wir die Entwicklung eines solchen Systems selbst in die Hand genommen und dpv-analytics gegründet.
Die künstliche Intelligenz, die Sie erwähnen, analysiert die Messungen. Wie leistungsstark ist diese Technologie?
Dr. Stephan Kranz:Wenn man sich überlegt, dass ein Langzeit EKG etwa 100.000 Herzschläge pro Tag aufnimmt und diese mit herkömmlichen Systemen durch einen Menschen begutachtet werden müssen, kann man sich vorstellen, dass dies viel Zeit in Anspruch nimmt und dadurch die Anzahl der möglichen Untersuchungen begrenzt ist. Durch eine KI kann die Auswertung dramatisch verkürzt werden. Dabei verlassen wir uns nicht alleine auf die KI. Die Software wertet das EKG aus und macht einen diagnostischen Vorschlag. Sie leitet den Arzt/die Ärztin dann zu den auffälligen Stellen im EKG und dieser/diese kann dann sehr schnell die KI-Diagnose validieren. So kann die Versorgungsqualität trotz entstehendem Ärztemangel, gerade in ländlichen Regionen, sogar gesteigert werden.