1. Frau Dr. Obenaus-Goloviants, laut einer aktuellen Umfrage halten 60 % der Deutschen die Reduktion des Gender-Health-Gaps für wichtig. Warum ist es so relevant, geschlechtsspezifische Unterschiede in der Gesundheitsversorgung stärker zu berücksichtigen?
Die Forschung zeigt deutlich, dass Frauen und Männer unterschiedlich auf Krankheiten und Behandlungen reagieren. Ein klassisches Beispiel ist der Herzinfarkt: Während Männer oft die bekannten Symptome wie starke Brustschmerzen zeigen, treten bei Frauen häufiger unspezifischere Beschwerden wie Übelkeit oder Rückenschmerzen auf. Werden diese Unterschiede nicht in der Diagnostik und Therapie berücksichtigt, kann das zu Fehldiagnosen oder einer unzureichenden Behandlung führen. Ein weiterer wichtiger Aspekt sind hormonelle Unterschiede. Der weibliche Zyklus, Schwangerschaften und die Wechseljahre beeinflussen nicht nur das Wohlbefinden, sondern auch die Wirkung und Dosierung von Medikamenten. Leider basiert ein Großteil der medizinischen Forschung immer noch auf männlichen Probanden, sodass viele Medikamente für Frauen oft überdosiert sind oder Nebenwirkungen nicht ausreichend erforscht wurden. Hier gibt es erheblichen Nachholbedarf.
2. Die Umfrage zeigt, dass 70 % der Befragten – besonders junge Frauen – sich mit ihren Beschwerden nicht ernst genommen fühlen. Welche Erfahrungen machen Sie in Ihrer Praxis?
Das ist ein sehr häufiges Problem, insbesondere bei unspezifischen Beschwerden wie chronischen Schmerzen oder hormonellen Dysbalancen. Viele Frauen berichten mir, dass sie von Arzt zu Arzt geschickt werden, ohne eine klare Diagnose oder gezielte Behandlung zu erhalten. Beschwerden werden oft als „normal“ abgetan – sei es als Stress, hormonelle Schwankungen oder die Wechseljahre. Ich erlebe oft, dass Frauen gesagt wird, sie müssten mit bestimmten Symptomen einfach „leben“ oder „da durch“. Das halte ich für falsch. Jede Patientin – und übrigens auch jeder Patient – verdient es, ernst genommen zu werden. Unser Körper ist darauf ausgelegt, gesund zu sein. Wenn Beschwerden auftreten, sollten sie untersucht und behandelt werden, anstatt sie einfach zu ignorieren. Besonders junge Frauen hören häufig, dass ihre Symptome stressbedingt seien und sie „einfach entspannen“ sollten. Doch es fehlt oft an konkreten Anleitungen, wie sie Stress abbauen können oder welche Maßnahmen helfen könnten. Das führt dazu, dass viele sich alleingelassen fühlen und weiter mit ihren Beschwerden kämpfen müssen.
3. Was raten Sie Frauen, die sich nicht ernst genommen fühlen?
Mein wichtigster Tipp ist: Gehen Sie gut vorbereitet in den Arzttermin. Notieren Sie Ihre Beschwerden, stellen Sie gezielt Fragen und fordern Sie klare Antworten ein. Wer für sich selbst einsteht und hartnäckig bleibt, bekommt eher eine fundierte Untersuchung und Behandlung. Zudem gibt es heute viele seriöse Informationsquellen, auch in den sozialen Medien. Viele Ärztinnen und Ärzte bieten dort Zusatzangebote an oder klären über bestimmte Beschwerden auf. Diese Möglichkeiten sollten Frauen nutzen, um sich vorab zu informieren. Leider bleibt in einer normalen Sprechstunde oft nicht genug Zeit für eine ausführliche Beratung, weshalb es umso wichtiger ist, sich gezielt vorzubereiten.
4. Mehr als die Hälfte der Deutschen ist der Meinung, dass unser Gesundheitssystem die unterschiedlichen Krankheitsmuster von Frauen und Männern zu wenig berücksichtigt. Welche Konsequenzen hat das in der Praxis?
Ein klassisches Beispiel ist die Herz-Kreislauf-Medizin. Lange wurden Diagnosen und Medikamente primär an Männern getestet, wodurch typische weibliche Symptome oft übersehen werden. Aus gynäkologischer Sicht sehe ich ein weiteres Problem: Viele Medikamente sind entweder zu hoch oder zu niedrig dosiert, weil sie nicht ausreichend an Frauen getestet wurden. Zudem werden Frauen mit unklaren Beschwerden häufig vorschnell Psychopharmaka verschrieben, weil ihre Symptome als psychosomatisch eingestuft werden. Diese Medikamente können wiederum den Hormonhaushalt beeinflussen, was zu neuen Beschwerden führt – die dann mit weiteren Medikamenten behandelt werden. Das kann einen Teufelskreis auslösen, der die Gesundheit der Frauen nachhaltig beeinträchtigt.
5. Einer der Kritikpunkte aus der Umfrage ist der Mangel an Informationsangeboten zur Frauengesundheit. Teilen Sie diese Einschätzung?
Ich würde nicht sagen, dass es an Informationen mangelt – im Gegenteil, es gibt einen Überfluss. Das eigentliche Problem ist, dass viele Frauen die Fülle an Informationen nicht richtig einordnen können. Gleichzeitig bleibt in der ärztlichen Praxis oft zu wenig Zeit, um individuell auf jede Patientin einzugehen und die Informationen gezielt zu sortieren. Hinzu kommt, dass das Gesundheitssystem unter erheblichem Zeit- und Kostendruck steht. Ärztinnen und Ärzte haben immer weniger Möglichkeiten, ihre Patientinnen ausführlich zu beraten. Das ist nicht nur ein organisatorisches, sondern auch ein politisches Problem.
6. 58 % der Deutschen befürchten, dass künstliche Intelligenz den Gender-Health-Gap verschärfen könnte. Wie sehen Sie die Rolle der KI in der Medizin?
Künstliche Intelligenz kann die Medizin revolutionieren – aber nur, wenn die zugrunde liegenden Daten divers genug sind. Wenn KI-Modelle hauptsächlich mit männlichen Daten trainiert werden, werden sie geschlechtsspezifische Unterschiede nicht erkennen. Trotzdem sehe ich auch Chancen: KI kann in der Forschung helfen, geschlechtsspezifische Daten schneller auszuwerten und dadurch präzisere, personalisierte Behandlungsmöglichkeiten zu entwickeln. Doch eines ist klar: Eine empathische Ärztin oder ein empathischer Arzt kann durch KI nicht ersetzt werden. Medizin ist mehr als Algorithmen – der Mensch-zu-Mensch-Kontakt bleibt essenziell.
7. Laut Umfrage zählen mangelnde ärztliche Kompetenz in geschlechtsspezifischen Fragen und zu wenige passende Therapieangebote zu den größten Hindernissen. Was müsste sich ändern?
In der medizinischen Ausbildung wird bislang kaum zwischen männlichen und weiblichen Krankheitsbildern unterschieden – mit Ausnahme der Gynäkologie. In anderen Fachrichtungen wird meist nicht differenziert, ob eine Frau oder ein Mann erkrankt ist. Hier braucht es dringend mehr Forschung und Investitionen, um die medizinische Ausbildung entsprechend anzupassen. Nur wenn die zukünftigen Ärztinnen und Ärzte diese Unterschiede verstehen, können sie auch in der Praxis bessere Diagnosen und Behandlungen anbieten.
8. Wie können Frauen selbst zu einer besseren Gesundheitsversorgung beitragen?
Natürlich können Frauen durch klare Kommunikation, regelmäßige Vorsorgeuntersuchungen und eigenständige Recherche dazu beitragen, ihre Versorgung zu verbessern. Aber ich finde, es sollte nicht allein in ihrer Verantwortung liegen. Wir als Gesellschaft müssen uns fragen, wie lange wir es akzeptieren wollen, dass Mütter, Töchter und Partnerinnen nicht adäquat behandelt werden. Frauen sollten sich trauen, offener über ihre Symptome zu sprechen. Schmerzen sind ein Signal des Körpers, das ernst genommen werden muss. Je mehr Frauen sich austauschen und ihre Erfahrungen teilen, desto mehr Aufmerksamkeit bekommt das Thema.
9. Was wäre Ihr Appell an Politik, Forschung und Versicherer wie die HanseMerkur?
Wir brauchen mehr Forschungsgelder, gezielte Aufklärungskampagnen und eine bessere Integration geschlechtsspezifischer Themen in die ärztliche Ausbildung. Außerdem sollten Krankenversicherungen spezifische Leistungsangebote schaffen, die den besonderen Bedürfnissen von Frauen gerecht werden. Nicht zuletzt ist eine bessere Vergütung der ärztlichen Leistungen essenziell. Nur wenn Ärztinnen und Ärzte ausreichend Zeit für ihre Patientinnen haben, kann eine qualitativ hochwertige und individuelle Behandlung gewährleistet werden. Der Gender-Health-Gap lässt sich nur durch eine umfassende, strukturelle Veränderung schließen.
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