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HanseMerkur Preis für Kinderschutz: Dup15q e.V. leistet wichtige Beratungs- und Aufklärungsarbeit zu seltener Erkrankung bei Neugeborenen

Wenn Kinder schwer erkranken, stehen Eltern vor großen Herausforderungen – vor allem emotional. Besonders, wenn es sich um eine sehr seltene Erkrankung handelt, über die kaum etwas bekannt ist. So wie im Fall von Verena Romero: Ihre Tochter Chiara ist an Dup15q erkrankt, von der genetischen Erkrankung ist nur eins von 15.000 Kindern betroffen. Um Wissen zu bündeln, Erfahrungen zu teilen, ein Beratungsangebot zu schaffen und die Familien zu unterstützen, hat Verena Romero 2020 gemeinsam mit weiteren Eltern den Dup15q e. V. gegründet.

Die Geschichte der Familie Romero steht stellvertretend für die Leidenswege der Familien, in denen ein Kind an Dup15q erkrankt ist. Chiara entwickelt sich als Neugeborene nicht altersgerecht, nimmt kaum zu, schreit unermüdlich und ihr Muskeltonus ist zu schwach. Verena Romeros Bedenken werden von anderen nicht ernst genommen. Das Kind sei halt etwas langsamer und das kommt schon irgendwann, heißt es aus ihrem Umfeld. Und dann reißt Chiara plötzlich die Arme hoch und versteift sich. Speichel rinnt ihr aus dem Mundwinkel und sie nimmt ihre Umgebung nicht mehr wahr. Der Anfall hört so plötzlich auf, wie er gekommen war.

Der Kinderarzt in der Praxis in Paris, wo die kleine Familie zu der Zeit lebt, schickt sie mit Verdacht auf Epilepsie ins Krankenhaus. Doch auch dort nimmt man Chiaras Zustand nicht ernst und schickt sie mit einer „Reflux“-Diagnose wieder heim. Einige Wochen später bekommt Chiara bei einem Familienbesuch in Deutschland einen weiteren Anfall – und noch einen, nur wenige Minuten später. Während des Einschlafens reißt Chiara im Minutentakt immer wieder schreckartig die Arme in die Luft und der Kopf nickt nach vorne. Wieder geht die Familie zu einem Kinderarzt, der sie in die Klinik überweist. Die Anfälle häufen sich und treten mittlerweile in jeder Einschlaf- und Aufwachphase auf. Auch als die Klinikärzte die Elektroden für das EEG anlegen wollen, krampft das kleine Mädchen.

Nur wenige Mediziner haben sich bisher mit der Krankheit befasst

Chiara hat tatsächlich Epilepsie, stellen die Ärzte fest. Mittlerweile hat sie bis zu zehn Serien an Anfällen am Tag, die jeweils 20 bis 40 Minuten andauern (sprich mehrere Hunderte Anfälle am Tag), und verliert das wenige, was sie sich bis dahin angeeignet hat, wie ihr Lachen und ihre Kopfkontrolle. Nach acht Monaten voller Untersuchungen und quälender Ungewissheit steht die Ursache für die Epilepsie fest: eine genetisch bedingte Erkrankung namens „Chromosom 15q11.2-q13.1 Duplikationssyndrom“, kurz Dup15q. Auf Romeros Nachfrage, ob sie sich mit der Krankheit auskenne oder von anderen Betroffenen weiß, schüttelt die Ärztin den Kopf.

Leider ist die Reaktion kein Einzelfall. Laut wissenschaftlicher Schätzungen ist nur eines von 15.000 Neugeborenen von Dup15q betroffen. In der gesamten DACH-Region wären das 6.661 Fälle, von denen vermutlich nicht einmal 1.000 die konkrete genetische Diagnose haben. Die Liste der Symptome ist lang: Muskelhypotonie, geistige Behinderung, Autismus-Spektrum, Epilepsie, Sprachstörungen, sensorische Verarbeitungsstörungen, Verhaltensprobleme, Schlafstörungen, gastrointestinale Probleme, Sehstörungen, Wachstumsstörungen etc. Die Ausprägungen sind bei jedem betroffenen Kind unterschiedlich. Die Forschung geht davon aus, dass allein in der DACH-Region knapp 6.000 Menschen entsprechend ihrer Ausprägung mit einer falschen (bzw. unspezifischen) Diagnose leben. Erschwerend kommt hinzu, dass es für Dup15q viele verschiedene Namen gibt. Repräsentative Forschungen sind unter diesen Voraussetzungen kaum möglich und es gibt nur wenige Mediziner, die sich mit der Krankheit bislang befasst haben. Manche von ihnen behandeln in ihrer Laufbahn ein oder zwei Dup15q-Patienten. Doch durch die unterschiedliche Ausprägung kann sich dabei keine Routine entwickeln.

Dup15q e. V. bündelt Erfahrungen und unterstützt betroffene Familien

Verena Romero konnte das Gefühl der Unwissenheit und Machtlosigkeit nicht ertragen. Sie recherchierte im Internet und nahm Kontakt zu einer deutschen Facebookgruppe auf. Dort lernte sie Mareike Dahmann kennen, die mit ihrer Tochter Ella ähnliches durchgemacht hat. Romero fühlt sich mit all ihren Sorgen und ihrer Hilflosigkeit zum ersten Mal verstanden. Kurz danach zieht Familie Romero zurück nach Deutschland. Medizin und Wissenschaft sind hier weiter, zudem gibt es wesentlich bessere Förderangebote für Kinder mit Behinderungen oder schweren Erkrankungen. 2020 gründen die beiden Mütter zusammen mit weiteren Eltern den Dup15q e. V. Gemeinsam wollen sie alle Erfahrungen bündeln und Familien pragmatisch unterstützen, indem sie diese umfassend und niedrigschwellig über das Syndrom und die Auswirkungen informieren. Zu den ersten großen Erfolgen zählt die Etablierung einer Dup15q-Spezialsprechstunde am Universitätsklinikum Heidelberg im Oktober 2022 – eine Kooperation des Instituts für Humangenetik, dem Sozialpädiatrischen Zentrum (SPZ) und der Klinik für Kinder- und Jugendmedizin am Universitätsklinikum Heidelberg sowie dem Dup15q e. V.

Auch Mediziner profitieren von Spezialsprechstunde

Nicht nur die Familien, die die Spezialsprechstunde besuchen, haben einen Mehrwert von der umfassenden medizinischen Versorgung. Auch Mediziner lernen von den kleinen Patientinnen und Patienten: „Ein epileptischer Anfall ist wie ein Gewitter im Gehirn. Das, was das Kind in dem Moment gelernt hat, was gerade da passiert ist, das geht verloren. Wenn ein Mensch 20 solcher Gewitter am Tag hat, kann er nicht gut lernen und sich nicht mehr konzentrieren. Deshalb ist es gerade bei Kindern besonders wichtig, schnell zu handeln, um ihre Entwicklung nicht nachhaltig zu gefährden“, erklärt Dr. Jan Henje Driedger, Facharzt der Sektion Epileptologie am Universitätsklinikum Heidelberg. Was ihm besonders fehlt, ist eine Studie mit Dup15q-Patienten, um zu sehen, welche Medikamente gut wirken, und welche nicht.

Es gibt kaum Veröffentlichungen hierzu und die meisten sind nicht mehr aktuell. „Deswegen brauchen wir diese spezialisierten Zentren, die auch mehrere Patienten gleichzeitig betreuen, um einen Überblick über die Symptomvielfalt zu gewinnen“, so Driedger. Dabei geht es ihm nicht nur um die Epilepsie, er will einen ganzheitlichen Blick auf die Lebensqualität der Kinder und ihre Familien. Und er will wissen, welche Symptome die Hauptbelastung im Familiensystem darstellen, um interdisziplinär ganzheitliche Behandlungskonzepte zu entwickeln. Deshalb unterstützt er gemeinsam mit anderen Ärzten und Betreuern der Spezialsprechstunde den nächsten Meilenstein des Dup15q e. V.: die Etablierung eines Patientenregisters.

Patientenregister soll ganzheitliche Betrachtung der Erkrankung unterstützen

Dort sollen nicht nur medizinische Daten, wie Symptome und ihre jeweilige Behandlung erfasst werden. Ein zusätzlicher Fragenkatalog, der von den Eltern befüllt wird, beinhaltet viele Fragen zum täglichen Leben. Geplant ist eine regelmäßige Abfrage der Daten über einen langen Zeitraum, sodass sich auch altersbedingte Entwicklungen ableiten lassen. Zudem kann die medizinische Auswertung des Registers eine geeignete Ausgangsbasis für eine Studie sein.

Auch Prof. Dr. med. Maja Hempel, Leiterin der Genetischen Poliklinik der Universitätsklinik Heidelberg, wünscht sich eine ganzheitliche Betrachtung der Betroffenen über einen langen Zeitraum. „Ich denke, wir können unheimlich viel voneinander lernen und gemeinsam mit den Eltern etwas entwickeln. Wir können mit den vorhandenen personellen und räumlichen Ressourcen die Sprechstunde nur einmal im Monat aktuell für zwei Patienten anbieten. Aber wir haben auch eine Warteliste. Realistischerweise können die Kinder mit ihren Familien maximal alle drei Jahre zu uns kommen. Für uns ist es wichtig, den Verlauf zu sehen, die Entwicklung im fortschreitenden Alter zu beobachten – also einmal im Kleinkindalter, einmal im Schulalter, einmal in der Pubertät sowie in der erwachsenen Medizin. Das gilt insbesondere für die bisher wenig erforschte Phase ab der Pubertät, die besonders kritisch ist, da sich ausgeprägte Psychosen entwickeln können. Ich glaube, das ist das Konzept der Zukunft“, erklärt Hempel.

Familien sollen mit ihren Sorgen als Ganzes aufgefangen werden

Von Dup15q Betroffene benötigen eine Eins-zu-eins-Betreuung. Einrichtungen für eine Fremdunterbringung sehen diese in der aktuellen Versorgungslandschaft allerdings kaum vor. Viele Eltern sehen der Zukunft ihrer Kinder daher mit großer Sorge und Hilflosigkeit entgegen. Die Vorstellung, dass ihre Kinder später in Betreuungseinrichtungen „ruhiggestellt“ werden, lässt sie verzweifeln. Dass die Familie als Ganzes aufgefangen wird, ist ein sehr wichtiger Aspekt der Spezialsprechstunde. Dazu zählt auch die Unterstützung im Behördendschungel. Deshalb ist Camila Gabriel, Koordinatorin der Spezialsprechstunde, auch außerhalb der Sprechzeit für die Familien erreichbar, gibt Tipps und stellt Kontakte her. Wenn Eltern aus einer anderen Region kommen, aktiviert sie ihr Netzwerk, um das passende Unterstützungsangebot vor Ort zu finden. Insbesondere die Unterbringung in einer Kurzzeitpflege oder einem Hospiz ist nicht einfach.

Die außergewöhnliche Arbeit von Verena Romero und dem Dup15q e. V. wird aus vielerlei Gründen mit dem HanseMerkur Preis für Kinderschutz ausgezeichnet. Zum einen als Zeichen der Wertschätzung und Anerkennung des mehr als vorbildlichen Engagements. Zum anderen spielt die öffentliche Aufmerksamkeit für eine derart seltene Erkrankung eine entscheidende Rolle, damit auch Ärzte, Kliniken und Betroffene von der Arbeit des Dup15q e. V. erfahren und sich an den Verein wenden können. Zudem ist es mehr als wünschenswert, dass die Spezialsprechstunde Schule macht und auch an anderen Standorten etabliert werden kann.

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