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Hamburg, 1. November 2023 Zurück

Moderne Arbeitsumfelder in einer fast 150-jährigen Versicherung: Agiles Arbeiten in der IT der HanseMerkur

Agile Organisationsmodelle sind in aller Munde. Sie versprechen flexible Arbeitsstrukturen, flache Hierarchien und ermöglichen es gleichzeitig, dass Unternehmen schneller auf ex- wie interne Bedürfnisse reagieren können. Darüber hinaus werden Innovationskraft und Produktivität bei paralleler Verringerung von Feedbackschleifen gefördert. Wir haben zu diesem spannenden Thema mit Dr. Horst Karaschewski, Leiter der IT bei der HanseMerkur, und Michaela Neumann, Gruppenleiterin im Bereich Business Intelligence & Data Management, gesprochen.

Seit wann nutzt die HanseMerkur die Möglichkeit agiler Arbeitsmethoden?
HK: Bei der HanseMerkur setzen wir bereits seit 15 Jahren dort, wo sie Mehrwerte versprechen, gezielt agile Methoden ein. Startpunkt war seinerzeit die Einführung einer komplett neuen Architektur in einem Systembereich. Für dieses IT-Projekt erschien uns ein klassisches Wasserfallmodell unpassend, da wir keine Erfahrungen mit der gewählten neuen Architektur hatten. Wir entschieden uns daher für die agile Vorgehensweise „SCRUM“.

 

Wie kam diese Umstellung bei den Mitarbeitenden an?
HK: Die Mitarbeiter reagierten darauf sehr offen, viele sogar begeistert. Die Führungskräfte blickten anfangs eher skeptisch auf die SCRUM-Methodik, was unter anderem an Befürchtungen von Macht- und Kontrollverlust lag, die es zunächst zu überwinden galt. Wie in jedem Veränderungsprozess bedurfte es auch hier intensiver Kommunikation, um Bedenken zu nehmen und ein gemeinsames Verständnis für das neue Vorgehen zu entwickeln.

Horst Karaschewski, Leiter IT HanseMerkur

Horst Karaschewski, Leiter IT HanseMerkur | HanseMerkur

Wie ging es nach der Einführung weiter?
MN: Nachdem die erste Einführung agiler Arbeitsmethoden gelungen war, wurden im Laufe der Zeit immer mehr Projekte mittels agiler Methoden realisiert. Dies geschah allerdings selten in Reinkultur. Denn für uns ging es nie darum, mit einem Paukenschlag als Organisationseinheit plötzlich agil zu werden oder eine agile Methodik möglichst lehrbuchgetreu anzuwenden. Unser Credo war und ist, Agilität Schritt für Schritt so zu verankern, dass sie zum größtmöglichen Erfolg führt. Grundvoraussetzung hierfür ist, dass die beteiligten Personen den Freiraum haben, das Vorgehen an die jeweilige Situation und an die handelnden Personen anzupassen.

 

Stichwort Herausforderung agiles Arbeiten: Gab es einen Schlüsselmoment, bei dem die neuen Arbeitswelten besonders auf die Probe gestellt wurden?
MN: Den gab es in der Tat: 2014 – nach rund sechs Jahren Erfahrung im agilen Mindset - waren wir von einer großen IT-Störung betroffen. Obwohl wir damals noch kein umfassendes System oder Vorgehen für die Behebung derartiger Großstörungen entwickelt hatten, wusste jeder Mitarbeiter intuitiv, was seine Rolle bei der Behebung war. Jeder arbeitete fokussiert an der Lösung und stimmte sich gleichzeitig fortwährend mit dem Team über das Vorgehen ab – und das über mehrere Tage hinweg. Niemand musste dezidierte Anweisungen erteilen. Die Führungskräfte brachten sich vielmehr mit ihrem fachlichen Wissen und bei der Organisation übergreifender Kommunikation etc. ein. Am Ende wurde zusammen die Lösung des Problems gefunden und die Schäden zielgerichtet beseitigt. Rückblickend hat diese Krisensituation - in der es vor allem darauf ankam, schnell sowie effizient zu handeln und Wissen zusammenzuführen - gezeigt, dass die agile Vorgehensweise schon damals in unserer Unternehmenskultur verankert war.

Ein weiterer Meilenstein war die Abschaltung unseres Großrechners im Dezember desselben Jahres – alle Systeme wurden durch Neuentwicklungen ersetzt. Die Arbeit in einer völlig neuen Systemlandschaft hat unsere Agilität nicht nur zusätzlich gefördert, sondern diesbezüglich vieles überhaupt erst möglich gemacht. 

Michaela Neumann, Gruppenleiterin im Bereich Business Intelligence & Data Management

Michaela Neumann, Gruppenleiterin im Bereich Business Intelligence & Data Management | HanseMerkur

Agile Arbeitsweisen setzen oft strukturelle Änderungen voraus. Wie hat sich – neben den Arbeitsweisen selbst – die Organisationstruktur dazu verändert?
HK: Ende 2015 wurde die Führungsposition einer großen Organisationseinheit in der IT vakant. Tatsächlich bestand diese Einheit aus vier, relativ unabhängigen Themenkomplexen. Da wir uns ohnehin mit dem Gedanken trugen, andere Organisationsformen auszuprobieren, nahmen wir dies zum Anlass, das Thema ganz neu anzugehen. Wir bildeten aus der Einheit vier neue Teams und gaben jedem Team die Entscheidungsfreiheit, eine klassische Führungskraft zu installieren oder als autarkes Team ohne direkten Vorgesetzten zu agieren.

 

Wir sind neugierig: Wie sah das Ergebnis aus?
HK: Zwei Teams entschieden sich für Führungskräfte, zwei für die autarke Arbeitsform. Wir ließen ein Team seine Führungskraft selbst aussuchen. Es gab eine Reihe externer Bewerbungen auf die Stelle, das Team aber präferierte einen Kandidaten aus einem nicht-IT-Bereich im Hause. Dem stimmten wir zu, was sich bis heute als goldrichtig erwiesen hat. Aus dieser Erfahrung heraus haben wir die Bewerbungsprozesse in der IT ganzheitlich auch auf Mitarbeiterebene verändert. Bis dahin wurde das Erstgespräch mit einem Bewerber meist durch die Führungskraft geführt. Heute kommen die Kandidaten zuerst ins Team und erst, wenn sie dort bestehen, sprechen sie mit der künftigen Führungskraft.

 

Welche Hürden mussten dabei genommen werden? Wo gab es anfangs Schwierigkeiten mit der neuen Organisationsform?
MN: Bei den autarken Teams machten wir in der Umsetzung einen entscheidenden Fehler: Es gab niemanden, der für Themen wie Gehalt oder Mitarbeiterentwicklung verantwortlich zeichnete. Anfangs verlieh die neue Freiheit dem Team enorm viel Schub, aber die fehlende disziplinarische Führungsrolle wurde im Laufe der Zeit immer sichtbarer. Inzwischen ist dieses Team wieder Teil eines anderen Teams mit (selbst gewählter) Führungskraft. Dennoch wurde in dieser Phase der Grundstein für erfolgreiche autarke Teams bei der HanseMerkur gelegt. Mit dieser Lernkurve stellten wir für neue autarke Teams klare Voraussetzungen auf. In jedem Team gibt es seitdem definierte Rollen, die besetzt sein müssen, damit ein Team bestmöglich funktioniert. Das Thema der disziplinarischen Führung lösten wir über die Rollentrennung von fachlicher und disziplinarischer Führung. Prämisse für die Bildung eines autarken Teams war damit auch, dass jeder Mitarbeiter einen People Lead, wie wir die neue Rolle nannten, hat.

 

Wie sieht es aktuell beim Thema agiles Arbeiten in der HanseMerkur-IT aus?

MN: Heute gibt es innerhalb der IT mehrere autarke Teams, die hervorragende Arbeit leisten. Dabei gleicht kein Team dem anderen. Gerade deshalb ist jedes auf seine individuelle Weise erfolgreich. Es braucht dabei wohl nicht erwähnt zu werden, dass wir schon immer nach DevOps gearbeitet haben. Auch hier gibt es nicht immer feste vorgeschriebene Regeln – außer die, welche die Regulatorik verlangt. Grundsätzlich hat jedes Team eigene, der jeweiligen Technologie und den Fähigkeiten der Mitarbeiter angepasste Regeln für sich definiert. Inzwischen sind wir seit 15 Jahren auf dem Weg zu einer agilen IT-Organisation. Gradmesser für die Sinnhaftigkeit dieses Wegs war und ist stets besser, effektiver, flexibler und letztendlich erfolgreicher zu werden.

 

Haben Sie Tipps für Unternehmen und Entscheider, die agiles Arbeiten in ihre jeweilige Unternehmung integrieren möchten? Wie lautet Ihre Erkenntnis zu diesem Thema?
HK: Wir haben viel ausprobiert, dabei auch Fehler gemacht – die gehören dazu und dessen sollten sich Entscheidungsträger bewusst sein. Wir haben festgestellt, dass das Überstülpen fester Modelle innerhalb einer Organisation zu starken Widerständen führen und intrinsische Motivation zerstören kann. Demgegenüber haben die beschriebenen Freiheitsgrade Raum für eine echte Fehlerkultur geschaffen, in der wir Lernerfahrungen sammeln und daraus neue Ideen für die Organisation entwickeln konnten. Der Mut, individuelle Lösungen und Eigenverantwortlichkeit zuzulassen ist es aus unserer Sicht essenziell für Agilität.

Unsere Erkenntnis ist, dass es keine one-size-fits-all-Lösung für alle Mitarbeiter gibt und geben kann. Menschen und ihre Bedürfnisse sind nun mal vielfältig. Gleichzeitig leistet jeder einzelne einen wertvollen Beitrag zum großen Ganzen. Und ist es nicht auch das, was das agile Manifest mit dem Satz „Individuen und Interaktionen sind mehr als Prozesse und Werkzeuge“ sagen will?