Agile Arbeitsweisen setzen oft strukturelle Änderungen voraus. Wie hat sich – neben den Arbeitsweisen selbst – die Organisationstruktur dazu verändert?
HK: Ende 2015 wurde die Führungsposition einer großen Organisationseinheit in der IT vakant. Tatsächlich bestand diese Einheit aus vier, relativ unabhängigen Themenkomplexen. Da wir uns ohnehin mit dem Gedanken trugen, andere Organisationsformen auszuprobieren, nahmen wir dies zum Anlass, das Thema ganz neu anzugehen. Wir bildeten aus der Einheit vier neue Teams und gaben jedem Team die Entscheidungsfreiheit, eine klassische Führungskraft zu installieren oder als autarkes Team ohne direkten Vorgesetzten zu agieren.
Wir sind neugierig: Wie sah das Ergebnis aus?
HK: Zwei Teams entschieden sich für Führungskräfte, zwei für die autarke Arbeitsform. Wir ließen ein Team seine Führungskraft selbst aussuchen. Es gab eine Reihe externer Bewerbungen auf die Stelle, das Team aber präferierte einen Kandidaten aus einem nicht-IT-Bereich im Hause. Dem stimmten wir zu, was sich bis heute als goldrichtig erwiesen hat. Aus dieser Erfahrung heraus haben wir die Bewerbungsprozesse in der IT ganzheitlich auch auf Mitarbeiterebene verändert. Bis dahin wurde das Erstgespräch mit einem Bewerber meist durch die Führungskraft geführt. Heute kommen die Kandidaten zuerst ins Team und erst, wenn sie dort bestehen, sprechen sie mit der künftigen Führungskraft.
Welche Hürden mussten dabei genommen werden? Wo gab es anfangs Schwierigkeiten mit der neuen Organisationsform?
MN: Bei den autarken Teams machten wir in der Umsetzung einen entscheidenden Fehler: Es gab niemanden, der für Themen wie Gehalt oder Mitarbeiterentwicklung verantwortlich zeichnete. Anfangs verlieh die neue Freiheit dem Team enorm viel Schub, aber die fehlende disziplinarische Führungsrolle wurde im Laufe der Zeit immer sichtbarer. Inzwischen ist dieses Team wieder Teil eines anderen Teams mit (selbst gewählter) Führungskraft. Dennoch wurde in dieser Phase der Grundstein für erfolgreiche autarke Teams bei der HanseMerkur gelegt. Mit dieser Lernkurve stellten wir für neue autarke Teams klare Voraussetzungen auf. In jedem Team gibt es seitdem definierte Rollen, die besetzt sein müssen, damit ein Team bestmöglich funktioniert. Das Thema der disziplinarischen Führung lösten wir über die Rollentrennung von fachlicher und disziplinarischer Führung. Prämisse für die Bildung eines autarken Teams war damit auch, dass jeder Mitarbeiter einen People Lead, wie wir die neue Rolle nannten, hat.
Wie sieht es aktuell beim Thema agiles Arbeiten in der HanseMerkur-IT aus?
MN: Heute gibt es innerhalb der IT mehrere autarke Teams, die hervorragende Arbeit leisten. Dabei gleicht kein Team dem anderen. Gerade deshalb ist jedes auf seine individuelle Weise erfolgreich. Es braucht dabei wohl nicht erwähnt zu werden, dass wir schon immer nach DevOps gearbeitet haben. Auch hier gibt es nicht immer feste vorgeschriebene Regeln – außer die, welche die Regulatorik verlangt. Grundsätzlich hat jedes Team eigene, der jeweiligen Technologie und den Fähigkeiten der Mitarbeiter angepasste Regeln für sich definiert. Inzwischen sind wir seit 15 Jahren auf dem Weg zu einer agilen IT-Organisation. Gradmesser für die Sinnhaftigkeit dieses Wegs war und ist stets besser, effektiver, flexibler und letztendlich erfolgreicher zu werden.
Haben Sie Tipps für Unternehmen und Entscheider, die agiles Arbeiten in ihre jeweilige Unternehmung integrieren möchten? Wie lautet Ihre Erkenntnis zu diesem Thema?
HK: Wir haben viel ausprobiert, dabei auch Fehler gemacht – die gehören dazu und dessen sollten sich Entscheidungsträger bewusst sein. Wir haben festgestellt, dass das Überstülpen fester Modelle innerhalb einer Organisation zu starken Widerständen führen und intrinsische Motivation zerstören kann. Demgegenüber haben die beschriebenen Freiheitsgrade Raum für eine echte Fehlerkultur geschaffen, in der wir Lernerfahrungen sammeln und daraus neue Ideen für die Organisation entwickeln konnten. Der Mut, individuelle Lösungen und Eigenverantwortlichkeit zuzulassen ist es aus unserer Sicht essenziell für Agilität.
Unsere Erkenntnis ist, dass es keine one-size-fits-all-Lösung für alle Mitarbeiter gibt und geben kann. Menschen und ihre Bedürfnisse sind nun mal vielfältig. Gleichzeitig leistet jeder einzelne einen wertvollen Beitrag zum großen Ganzen. Und ist es nicht auch das, was das agile Manifest mit dem Satz „Individuen und Interaktionen sind mehr als Prozesse und Werkzeuge“ sagen will?